Geliebte Feinde

von Michelle Otto und Sebastian Balcerowski

Eingesandt zum Story Contest der StarTrek Association 2006

August Thomson erwachte an jenem Tag zur gewohnten Zeit. Bald vermischten sich die Bilder seines Traums mit der Wahrnehmung der Realität, was zunächst für Verwirrung sorgte. Doch er wusste, dass er aufzustehen hatte. Vor ihm lag das Padd, an dem er letzte Nacht noch gearbeitet hatte. Die Gedanken entzogen sich dem Geist und der Geist konnte sie nicht fassen. Es waren Gedanken, die ihrer Zeit voraus waren und doch schon veraltet. Sie stellten ein menschliches Gedankengut dar, und wollten doch für alle Humanoiden gelten. Sie beanspruchten eine subjektive Forderung für eine objektive Ethik zu sein. Doch im Moment war der angefangene Text auf dem Display nichts von alledem. Die Träume in seinem Herzen sperrten sich dagegen, elektronisch erfasst zu werden.  

Der Geistliche versuchte sich von irgendeinem Gegenstand in seinem Quartier inspirieren zu lassen. Sein Blick streife ein altes Kreuz, Familienerbstück. Er sah auf seinem bolianischen Wandteppich, seinen Augen wanderten über eine Ikone Bajors. Er sah hinunter zu seinem klinisch sauberen Teppich, seine Wände kannten keinen Schmutz. Obwohl er mit vielen persönlichen Gegenständen ausgestattet war, erschien ihm sein Wohnraum heute eher leer und bedeutungslos. Wozu das alles noch? Wozu diese ganze Arbeit? Wofür? Stehen sie in einem Verhältnis zu erwarteten Nutzen? Kann sie noch irgendjemanden erreichen? Man will doch keine hohlen Worte mehr! Man braucht Waffen, Bomben, Phaser. Das zählt. Geschäfte. Kriegsgeschäfte. Ein guter Tag zum Sterben – ein schlechter zum Predigen.  

 

Nachdem er die üblichen Hygieneprotokolle erfüllt hatte, zog er sich frische Kleidung an und band seinen römischen Kragen um seinen Hals. Manchmal wunderte er sich, dass dieses Erkennungszeichen eines Pfarrers all die Jahrhunderte überdauert hatte.  

Dann setzte er sich an seinen Tisch, um an seiner Predigt zu arbeiten, sie endlich zu vollenden.  

 

Wie gewohnt erwartete er keinen großen Besucherandrang. Er war froh, dass die kleine Kirche noch unterhalten wurde und er nicht längst von einem Hologramm ersetzt worden war.  

Thomson war überzeugt, dass trotz des ganzen Fortschritts die Ruhe in dem Sakralbau schon viele Jahrzehnte gleich geblieben war. Schon immer kamen Menschen und neugierige Angehörige anderer Spezies hier herein, um die Stille zu suchen, die vergleichsweise nur der nackte Weltraum bieten konnte.  

In letzter Zeit waren es sogar mehr Gläubige. Der Dominionkrieg forderte Äußerstes von den Offizieren und die Seele lag blank im Phaserfeuer, in den Schreien, im Tod. August war es beinahe nicht mehr möglich, die Opferlisten zu aktualisieren oder jedem Wunsch nach einer Gedenkfeier für einen Verstorbenen nachzukommen.  

Inzwischen hatten sich 20 Personen in dem Gotteshaus eingefunden. Unter ihnen waren vor allem ältere Zivilisten, einige junge Kadetten, ein Vulkanier sowie ein Bajoraner. August war froh, dass in religiöser Hinsicht längst eine andere Zeit eingebrochen war. Das engstirnige Streben der einzelnen Konfessionen wurde unter dem Bund der Weltkirche aufgehoben. Statt eines Papstes gab es einen gewählten Vertreter und jede Mitgliedskirche musste sich nur auf die minimalen Grundsätze verpflichten, hatte aber sonst jegliche Autonomie.  

 

„Feindesliebe?“, setzte August seine Predigt an, „Liebe Schwestern und Brüder, wie soll ich auf der Grundlage dieses Evangeliums eine Ansprache halten, wenn Krieg ist. Die Föderation zeigt sich als tolerantes Gebilde, das die Souveränität anderer Völker akzeptiert, das vor allem den Weltraum friedlich erforschen möchte. Oder anders gefragt: Gäbe es eine Alternative zum Dominionkrieg? Selbst in der Kirchengeschichte finden sich zahlreiche Beispiele von blutigen Auseinandersetzungen, die oftmals im Zeichen des Kreuzes geführt worden sind.  

Ich möchte die Fragestellung von einer anderen Seite beleuchten: Die gängige Meinung in unserem Jahrhundert ist die Überflüssigkeit von Gott. Sind wir selbst zu Göttern geworden? Wir können aus dem scheinbaren Nichts Nahrung entwerfen, wir finden auf dem Holodeck die höchste Befriedigung unserer Fantasie. Es gibt keine Armut mehr, kein Verbrechen. Ist es wirklich so oder haben wir unsere Wahrnehmung zu sehr auf die Größe des Weltraums verlagert, dass wir gar nicht mehr die kleine Welt, das eigene Selbst, den individuellen Sinn eines jeden sehen möchten?  

Liebe Christen, wieso gibt es dann Sektion 31? Wie viele Verstöße gegen die Erste Direktive sind zu verzeichnen? Hält sich jeder Captain penibel an die Konventionen des Krieges? Wer oder was sind wir unter dem Deckmantel der Föderation?  

Wir haben Armut und Verbrechen in dem Glauben überwunden, dass wir alle für uns selbst und für die ganze Menschheit Fortschritt erstreben möchten. Ist das die ethische Evolution oder doch nur ein verdeckter Egoismus? Es gibt keine räumlichen Grenzen mehr, es gibt beinahe keine tödlichen Krankheiten mehr. Der Mensch hat sich selbst in den Mittelpunkt gestellt. Wo ist Gott?  

War er von Anfang an eine Projektion, eine Zwangsneurose, ein infantiles Jenseits?  

Ist es nicht eher so, dass allein er der Grund für unser Dasein ist? Dass allein er, die Evolution und die Erschaffung des Weltalls in die Wege geleitet hat?  

Wir können inzwischen jeden einzelnen Schritt unserer Entstehung detailliert beschreiben und evident nachweisen, aber wir wissen nicht, woher wir kommen. Wir sind unsterblich geworden an uns selbst und gleichzeitig überheblich. Wir verachten die kriegerische Natur der Klingonen, der Tal-Shiar ist uns suspekt, das Erwerbsprinzip der Ferengi scheint uns fremd. Sind wir um so viel besser? Oder decken jene Völker die Facetten in unserem Selbst auf, die immer noch existieren?  

Feindesliebe braucht zu allererst einmal die Liebe zu sich selbst. Wir müssen in uns kehren und unser Bild stets überarbeiten. Wir dürfen nicht dem Wissenschaftsoptimismus verfallen.  

Das zweite Problem, liebe Gemeinde, ist, das Wagnis, diese Ethik zu praktizieren. Vor allem weil wir wissen, dass wir dabei zugrunde gehen werden, solange andere Völker weit entfernt von diesen Maßstäben sind. Jesus selbst starb, ihm glaubte man nicht, der Sohn Gottes zu sein, selbst Petrus hat ihn dreimal verraten und letztlich war unser Herr genauso alleine. Aber er starb nicht nur zur Erlösung, sondern zur Entäußerung des göttlichen Absoluten. Wenn wir Gott ignorieren, ignorieren wir unser Sein, unsere Herkunft, unser Gewissen …  

Wir haben Angst. Wir wollen den Status quo. Wie lange wird das noch unser Alibi sein können?  

Ich denke, es wäre sehr zynisch zu verlangen, dass wir alle zu Pazifisten werden und uns von den Jem‘Hadar überrollen lassen. Hätte Jesus das gewollt? Ich weiß es nicht. Ich denke, der Herr stellte so hohe Ansprüche an uns, dass wir uns immer wieder verändern wollen und müssen. Wir wären wohl Gott gleich, könnten wir Jesus in aller Hinsicht folgen. Es kommt auch nicht darauf an, irgendwelche Leistungen zu erbringen, wir sind alle, die wir glauben, von Gottes Gnade aufgenommen. Es geht darum, stets das Christliche in uns zu verbessern, die Augen für die Welt um uns aufrecht zu erhalten, die Fassaden des Fortschrittes zu durchbrechen, über unser Selbst in der Transzendenz Gott näher zu kommen. Wir müssen es nicht, aber es sollte unser Anspruch sein, wenn wir uns würdige Christen heißen wollen. Amen.“  

 

Fähnrich Melissa Candy verharrte im Kirchenschiff. Ihr Blick ging starr nach vorne zum Kreuz. Sie fragte sich, was ihr Dasein rechtfertigte, ob sie jemals Gott genügen würde, ob ihr Glaube stark genug war.  

Plötzlich erschrak sah. Waren das nicht Schritte? Die junge Frau schloss ihre Augen sie – wollte die Ruhe finden, die sie im harten Dienst eines Sternenflottenoffziers lange nicht mehr finden konnte. Sie versuchte zu beten, Guter Gott, vor dir bin ich getreten. Ich bitte dich, sei mir nahe, wenn ich an mir verzweifle. Wenn ich einen Jem‘Hadar … - Hatten sie die gleiche Würde? Glichen sie nicht eher einer Maschine? Sie sind künstlich erschaffen, nur auf Krieg ausgelegt … erschießen muss. Sei bei mir, in den dunklen Stunden, wenn ich einen Freund verlieren, wenn er vor meinen Augen stirbt und … War da nicht etwas? Wer störte ihre Muße? Candy unterbrach ihr Gebet und schaute sich ängstlich um. Panik stieß in ihr auf, einige Meter vor ihr brannten Kerzen und es schien, dass sie die gesamte Wahrnehmung von ihr verschleiern würden. Für einen Moment hatte die Offizierin das Gefühl, über sich selbst zu schweben. Sie war für einen Moment vollkommen ohne Gefühle. Langsam drehte sie den Kopf nach hinten. Sie wusste längst nicht mehr, ob ihre Sinneseindrücke immer korrekt waren, oder ob der Stress des Kriegsdienstes diese irreal werden ließen. Sie glaubte die Umrisse eines Mannes zu erkennen. Würde er mir – also ich meine – ich bin doch in einer Kirche. Wenn er – ein Wechselbalg – ich – ich bin, bin doch nur Fähnrich! Sie starrte auf den Mann. Kam er näher? War er bewaffnet? Candy schloss die Augen. In diesem Moment war sie bereit, ihr Leben Gott hinzugeben. Sie hörte Schritte. Definitiv näherte sich ihr irgendjemand. Die Laute der Schuhe. Lauter wurden sie. Bedrohlich. Gefährlich. Überlegen. Angst drang in ihr Dasein ein. Sie konnte nicht mehr denken. Er war längst da. Langsam drehte sie den Kopf, den sie kurz zuvor wieder in die ursprüngliche Position gebracht hatte, als könnte sie so die bevorstehende Begegnung mit dem Fremden umgehen. Fluchtimpulse durchwanderten ihr Nervensystem. Hätte ich doch – also meinen Phaser, den – also – wenn ich …  Sie wollte sich nicht mehr vor der Wirklichkeit verschließen.  

Sie sah in sein Gesicht. Es war ihr bekannt. Sie atmete erleichtert auf.  „Herr Pfarrer! Haben Sie mir einen Schrecken eingejagt!“  

„Oh, das tut mir Leid – Ich habe Sie hier schon öfters gesehen. Ich fand in Ihrem Blick immer etwas Suchendes. Also ich bin hier, wenn Sie jemanden zum Reden brauchen, das ist meine Aufgabe als Seelsorger.“  

„Ihre Beobachtungsgabe scheint sehr fein und ausgeprägt zu sein. Also ich – ich – ich weiß nicht. Ich hab‘ im Grunde wenig mit der Kirche, mit Gott – also ich – ich bin fühl-fühl-fühle mich … verzweifelt.“  

August nahm diskret neben ihr Platz. Die Frau hatte sich hingesetzt, als könnte sie damit den Druck ihrer Ängste verringern. Dann erwiderte er: „Es spielt keine Rolle, wie religiös Sie bisher waren. Sie kennen doch das Gleichnis vom Weinbergbesitzer?“

„So wage …“  

„Auf dem Punkt gebracht bedeutet es: Egal, wann man zu Gott kommt, man hat niemals Diskriminierung zu befürchten, sondern erhält den gleichen Lohn, wie jener, der zeitlebens glaubt. Das ist die Gerechtigkeit von Gott, die über die menschliche weit hinausgeht. Wollen Sie versuchen, mir zu sagen, was genau ihre Befürchtungen sind?“  

„Nun ja, ich bin quasi Soldatin. Ich erschieße täglich andere – Cardassianer, Breen. Ich denke mir immer, OK, es ist für die Freiheit. Für die Gerechtigkeit. Aber was würden ihre Frauen dazu sagen? Was die Kinder, die auf das sehn-sehn-sehnüchtige … ist Gott mir gnädig?“, fragte der Fähnrich und begann zugleich zu schluchzen. Währenddessen wendete sie ihren Blick von dem Geistlichen ab. Dieser sah sie an. Die junge Frau hatte ein ovales Gesicht mit blauen Augen. Ihre Uniform betonte nicht gerade ihre Figur, zeichnete jedoch die Konturen ihres Busens ab. Sie schien mager, leer und nicht nur ihr Äußeres verschlissen.  

„In der Welt habt Ihr Angst, aber siehe ich habe die Welt überwunden – so spricht Jesus selbst und …“  

„Ja schon, aber … das ist doch keine Feindesliebe!“  

„Nun, die Frage ist: Will Gott, dass wir unser eigenes Wohl den anderen unterordnen? Sie würden sicherlich sterben, verteidigten sie sich nicht. Das Doppelgebot der Nächstenliebe beinhaltet zuerst einmal die Eigenliebe.“

„Trotzdem. Für viele ist es Routine. Aber ich – ich denke dann, also – dieser Gul hat doch auch Familie! Diesen Soldaten erwartet eine Frau – dieser Breen möchte lebend zu seiner Heimat – wir töten ihn, ohne ihn näher zu kennen. Es türmen sich Leichen, die keiner mehr zählt. Es sterben Menschen, die keiner mehr kennt. Dann heißt es: Für die Freiheit. Aber gibt es nicht immer eine Rechtfertigung? Ich weiß nicht, wenn Sisko nicht so aggressiv – also ich meine – hätte man nicht – mit ihnen also auf – hätte man nicht verhandeln können?“  

„Ich weiß es nicht. Auch mich erschrecken die vielen Toten zusehends. Gott stellt uns immer wieder auf ein harte Probe und doch ist er den Leidenden am Allmächtigsten, das sagte schon Martin Luther.“  

„Luther? Dieser Mönch – mit der Reformation?“  

„Ja, genau jener – beachtlich, dass sie mit dem Namen noch etwas anfangen können!“  

„Nun ja, ich war – also ich – bin – also ich – Das war nicht immer so, dass ich so große Glaubenszweifel habe. Was soll ich tun, Herr Pfarrer?“

„Ich kann Ihre Empfindungen nachvollziehen, da ich selbst ein Jahr an der Front gearbeitet habe. Das Dominion vertritt eine einseitige Ideologie, die jedes Leben, das über Ihr Spektrum hinausgeht, verachtet. Heilige Ordnung wollen Sie erschaffen … Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, ich bringe das Schwert – auch das stammt von Jesus! Auch er stieß die Tische im Tempel um, als er von Händlern belagert worden ist. Selbst er schien fehlbar. Ethische Probleme haben selten eindeutige Antworten. Wichtig ist es nur, nicht von einer reinen Gesinnung auszugehen, sondern vor allem die Folgen zu beachten. Etliche Völker würden nach uns vermutlicher auf Befehl der Gründer unterworfen werden. Wollen wir dafür mitverantwortlich sein?“  

„Ja, schon. Aber ich sollte vielleicht den Dienst quittieren, wenn ich so ein Weichei bin!“

„Ich denke nicht, dass sie das sind. Sie hinterfragen. Sie überlegen. Ich glaube, Gewissheit erlangen sie nicht, wenn sie weglaufen wollen. Erinnern sie sich an meine Predigt? Wir können nicht immer human sein, wir können nicht immer christlich sein. Krieg ist sicherlich eine Ausnahmesituation. Aber Gott steht Ihnen bei. Er wird sie durch die Wirren des Krieges begleiten.“  

„Fragt sich nur, wie lange noch … danke, Herr – also ich – muss dann. Sie haben mir geholfen!“, erwiderte Candy abrupt. Auch wenn sie dankbar für das Gespräch war, wusste sie genau, dass sie wieder zu ihrem Phasergewehr greifen musste.

 


Diese Geschichte wurde zum Story Contest der StarTrek: Association eingesandt. Das Copyright dieser Geschichte verbleibt beim Autor der Geschichte (wird am Ende der Voting-Phase, 27.Oktober 2006, bekannt gegeben).